Gewiss, man kann in einem Buch auch einfach gute Grafik machen, sich als eigenständiger Künstler fragen, warum man sich überhaupt auf den Text beziehen und das schon einmal Gesagte noch einmal sagen soll. Überspitzt hat das ein deutscher Kritiker so formuliert, dass ein guter Illustrator Analphapet sein sollte, um eine wirklich künstlerische Leistung zu vollbringen; das erst gäbe die Möglichkeit, das illustrierte Buch zum Kunstwerk zu machen. Damit wären wir wieder beim „Buchschmuck“ des Jugendstils angelangt, als „Kopfleisten“ und „Schlussstücke“ mit Wasserpflanzen- und Frauenhaarmotiven jeden Text begleiten konnten.
Ich sitze auf einem andern Ast. Ich meine, dass gute Grafik noch keine gute Illustration sei, was aber nicht bedeutet, dass eine schwache Zeichnung je eine gute Illustration sein könnte. Die Bindung an die Bucharchitektur, an die Textkolumne und ihre Stellung zum unbedruckten Weiss, die Dichte und der Charakter der Schrifttype: Das alles verpflichtet zu grosser Disziplin und Anstrengung in der Formgebung.
Aber darüber hinaus sehe ich den Illustrator als Partner nach zwei Seiten: Als Partner des Autors und des Lesers. Je enger sich der Zeichner dem Textschreiber verbunden fühlt, um so mehr wird er zum Mittler und Ausdeuter, indem er die Eindringlichkeit des Wortes steigert und verdichtet. Es ist seine Sache, im Text Ungesagtes oder was der Sprache nur unvollkommen gelingt, mit seinen Mitteln hinzuzufügen, bloss Angedeutetes aufzugreifen und weiterzuspinnen und als mehr oder weniger freie Paraphrase zu gestalten.
Man kann sich fragen, was z.B. Thomas Mann oder Adalbert Stifter in ihren mit äusserster Akribie ausgeführten Texten dem Illustrator noch überlassen. Ich sehe es darin, dem in der Zeit fort eilenden Wort als Kontrast das im Raum verharrende Bild zu zugesellen und damit die über Seiten sich hinbreitende Schilderung zusammenzufassen und erst so bildhaft werden zu lassen.
Die Illustration ist also für mich angesiedelt zwischen Verdichtung und Paraphrase.
In jedem Falle soll sie aber eine Verallgemeinerung sein, ich meine, eine ganz spezielle Situation sei so auf das Wesentliche reduziert, dass sie durch ihre Allgemeingültigkeit auch auf den Leser passt und eine Brücke zu seinem eigenen Erleben und Erinnern schlägt.
Dazu gehört, dass der Zeichner seine persönliche Fantasie einfliessen lässt. Alle Fantasie ist Erinnerung (die Mutter der Musen war Mnemosyne, die Erinnerung). Damit ist nicht nur der individuelle und bewusste Erinnerungsschatz gemeint, sondern auch das kolletiv Unbewusste, die Ablagerung der Eindrücke und die Vorstellung ganzer Geschlechterfolgen.
Es gehört übrigens zum Reizvollsten, denselben Text in von verschiedenen Illustratoren ausgestatteten Ausgaben vor sich zu haben, zu vergleichen und festzustellen, welche Situation einer herausgreift, wie er die Akzente setzt, wie er irgendwie „Partei ergreift“ (ähnlich der Filmkamera) und wie er auf den Tonfall des Textes eingeht. Es wird dabei klar, dass Illustration Interpretation ist und dass nicht nur eine Interpretation möglich und allein richtig sein kann. „Literatur, gesehen durch ein Temperament“.
Ein Illustrator – auch wenn sich seine Bilder leicht hingeworfen und improvisiert geben – ist sich seiner kompositionellen Mittel so bewusst wie ein Wandmaler, wie sein Metier überhaupt grosse Ähnlichkeit hat mit dem des grossen Bruders, der Wandflächen gestaltet. Er muss mit seinen figurativen Formen so bewusst umgehen, wie ein anderer mit abstrakten Massen, Strukturen, Kontrasten und Richtungen.
Es ist ja bekannt, dass ein Bild vom menschlichen Auge nicht unmittelbar als Einheit aufgenommen, sondern unbewusst von links nach rechts abgelesen wird (wenigstens bei uns Europäern). Diese Tatsache hat für den Leser, dessen Auge hundertfach von links nach rechts über die Zeilen geglitten ist und nun auf ein Bild stösst, doppelte Gewichtigkeit. Er ist sich dessen zwar nicht ohne weiteres bewusst, aber er kann die Probe darauf machen und den Wechsel in Aussage und Ausdruck feststellen, wenn er das Buch vor den Spiegel hält. Ausserdem kennt er ja das Phänomen der Verfremdung, wenn ein Dia – vor allem von einem Kunstwerk – seitenverkehrt projiziert worden ist. Durch diese zeitlich gestaffelte Aufnahme der Eindrücke durch unsere Augen hat jeder Ort der Bildebene seinen Stellenwert und zwar in rein formaler wie auch in emotionaler Hinsicht. Wenn ich von einer steigenden und einer fallenden Diagonale spreche, ist niemand im Zweifel, welche gemeint sei.
Für den Künstler, der Orginalgrafik macht, d.h. seine Druckplatten selber schneidet, sticht oder ätzt, daher spiegelverkehrt arbeiten muss, sind diese Änderungen besonders wichtig. Es ist übrigens interessant, fetzustellen, welche Künstler dieser Umkehrerscheinung Wichtigkeit beimessen: Dürer hat seine Entwürfe zu Holzschnitten und Stichen sorgfältig gewendet, ebenso Goya zu seinen Radierungen, während Rembrandt und Munch die Umkehrung bedenkenlos in Kauf genommen haben.
Natürlich fange ich als Zeichner meine Illustrationsarbeit nicht mit solchen Überlegungen an, sondern skizziere spontan die sich mir aufdrängenden Bilder, die „fruchtbaren Stellen“. Aus der überlangen Reihe dieser Blätter, aufgestellt auf Leisten an der Atelierwand, scheide ich aus, was irgendwie fremd ist, was zu gleichartig ist, sodass sich eine geschlossene und spannungsreiche Folge ergibt. Auf diesen Blättern arbeite ich weiter, bis oft nur noch für mich deutbare Strichbündel sichtbar sind.
Der erste Einfall ist Voraussetzung und zugleich Geschenk! Das Durchführen aber ist harte Arbeit: Das Ungefähre in eine feste und endgültige Form zu bringen. Dazu gehört, ganz einfach gesagt, Handwerk. Darunter verstehe ich nicht nur das Manuelle, sondern alles, was lehr- und lernbar ist. Das ist geduldige, angespannte Arbeit. Und das Schwierigste dabei: Die Frische der ersten Vision durchzuretten. Anfangen ist ja so schön! Aber das Abschliessen und Fertigmachen ist meist bitter. Der Verleger drängt, oder man sagt sich selber: Es ist nicht, wie du es dir erträumt hast, aber besser machen kannst du es im Augenblick nicht; jede abgeschlossene Arbeit ist eine Station auf dem Weg, aber das nächste Mal...
Und so fängt man eben doch immer wieder an, immer mit derselben Hingabe, sonst hätte es ja keinen Sinn. Vieles entsteht spontan, ohne Absicht oder Sicherheit auf Publikation, vieles aber sind Verlegeraufträge, die ich aber nur annehme, wenn ich eine Beziehung zum Manuskript bekomme. Packt es mich aber, so stellt sich eine eigenartige Wechselwirkung ein: Einerseits schiebt sich die eigene Vorstellungswelt in die Fabel ein: Das ist doch genau so wie damals! - Anderseits ist man erfüllt von dem Gelesenen, dass manches Alltägliche und bisher nicht Beachtete Bedeutung bekommt und einem die Illustrationen „begegnen“. Die Flut der visuellen Eindrücke passiert einen Filter, in dem hängen bleibt, was Bezug hat zu den beim Lesen aufgestiegenen Bildern: Ein junger Mann wird zum David; der gute Onkel Theodor (hundert Mal gesehen und nicht beachtet) zum König Saul, der Hund des Nachbarn zum Wolf und der Regierungsrat zum falschen Grosswesir.
Ein Illustrator gleicht dem antiken Riesen Antäus, der, im Kampfe mit Herakles zu Boden geworfen, immer wieder frisch gestärkt sich erhob, war doch Gäa, die Erde, seine Mutter und versah ihn mit neuer Kraft. Erst als Herakles ihn hochhielt und den Kontakt mit der mütterlichen Erde unterbrach, war er verloren. Ein Illustrator läuft leer, wenn er den Kontakt mit der Erde, der Natur, verliert, ich meine, wenn er nicht unausgesetzt seinen Vorstellungsschatz durch Natur- studien erneuert.
Der deutsche Schauspieler Fritz Kortner schreibt in seinen Memoiren, dass ein Schauspieler aus Passion keinen Moment aufhöre, Schauspieler zu sein. Nicht etwa in dem Sinne, dass er sich und andern ständig etwas vorspiele, sondern, dass er das ihn umspielende und umflutende Leben als mögliche Szene sieht, dass er alles, was sich ihm als Lebensäusserung bietet (auf der Strasse, im Café, auf dem Bahnhof) auf seine Darstellbarkeit und seine Allgemeingültigkeit hin sieht, prüft und sich merkt.
Das gilt auch für den Zeichner, der sich bewusst Gruppen und Gebärden, Bewegungen und Situationen einprägt. Skizzieren ist natürlich besser. Ich bin zwar kein manischer Zeichner, wie Menzel es war, und kann mich auch nicht rühmen, wie Chodowiecky, „allerliebste Szenen durch das Schlüsselloch gezeichnet zu haben“. Aber meine Skizzenbücher, die einen Schrank füllen, sind doch voller möglicher Illustrationen, sie sind mein erweitertes Gedächtnis, mein „Betriebskapital“. Es ist schon so, wie Dürer vom Maler gesagt hat: „... denn er geusst aus, was er lange Zeit von aussen in sich eingesammelt hat“.
Zu Anfang erwähnte ich eine Partnerschaft, die der Illustrator nach zwei Seiten eingeht: Die zum Autor und die zum Leser. Der Autor ist ihm bekannt, den Leser muss er vermuten, oder aber sich vorstellen. Für mich als Zeichner gilt, was Georg Christoph Lichtenberg für den Schriftsteller als Aphorismus formuliert hat: “Es ist fast nicht möglich, etwas Gutes zu schreiben, ohne dass man sich dabei jemanden oder eine grosse Auswahl von Menschen denkt, die man anredet“.
Ich jedenfalls stelle mir einen Partner vor, den ich anrede, oder „anzeichne“. Nicht in dem Sinne, dass ich mich seinem vermutlichen Geschmack anzupassen suche, einen potenziellen Käufer anpeile, etwa nach dem perfiden „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“. Sondern einfach so, dass ich als Sender nicht ins Blaue hinaus sende, sondern mir den Empfänger vorzustellen suche, der mich empfangen könnte.
Wenn ich für bibliophile Sammler arbeite (sie bilden eine grosse Gemeinde über alle Sprachgrenzen hinweg), dann kann ich bestimmte Ansprüche an ihre Kennerschaft stellen, kann meiner persönlichen Handschrift freien Lauf lassen, weiss auch, dass Anspielungen oder Auslassungen verstanden werden.
Rede ich aber Kinder an, dann weiss ich, dass ich mich in erster Linie genau an den Text halten muss. Kinder sind Pedanten, weil sie gutgläubig den Text für bare Münze nehmen und nicht dulden, dass der Wert dieser Münze durch die Illustration in Frage gestellt wird.
Ich bemühe mich auch, die Bilder gegenständlich klar und leicht lesbar zu machen und verzichte bewusst auf ein Zurschaustellen von Orginalität. Kurz gesagt: Ich versuche so zu zeichnen, wie man einem Kinde erzählt. Man kann sich dazu zum Kind auf den Teppich legen, d.h. sich zu ihm hinablassen. Man kann es aber auch zu sich auf das Knie oder auf den Schoss nehmen, es also auf seine Ebene heraufnehmen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder lieber auf den Schoss kommen. Und so lasse ich mich in meinen Zeichnungen nie auf den Teppich hinunter, versuche nicht, um jeden Preis „kindlich „ zu sein.
Meine ersten Bilderbücher entstanden damals (das erste 1945) für den Hausgebrauch, es waren Schildereien eines praktizierenden Vaters. Das Eigenartige und auch für mich Überraschende war, dass diese Bücher, die mit so viel Anspielungen und mit so viel Bezug auf ein bestimmtes Kind entstanden waren, die Kinder der halben Welt ansprechen und von ihnen verstanden werden.
21. Juni 1975 im Aargauer Tagblatt