Der Bilderbuchmaler

Bettina Hürlimann, Sach-, Kinder-und Jugendbuchautorin, hatte daneben eine Leidenschaft: Reisen. Sie war unter anderem in Grossbritanien, Frankreich, Italien, Kanada und den USA. Bei einem Aufenthalt in Japan 1961 konnte sie dank ihrem Mann, dem Atlantis-Verlagsleiter Martin Hürlimann, entscheidende Kontakte zu Kinderbuchfachleuten knüpfen. Hoffmanns Kontakte zu japanischen Verlegern kam auf diese Weise zustande. 

Sie schreibt über den Bilderbuchillustrator Felix Hoffmann:

 

Felix Hoffmann, ein Künstler mit einem breiten Spektrum an Bildung, Kenntnissen und handwerklichem Können auf den verschiedensten Gebieten, hat einen beachtlichen Teil seiner Tätigkeiten, international gesehen vielleicht die erfolgreichsten, dem Bilderbuch der Kinder gewidmet.

Felix Hoffmann war über sechzig Jahre auf dieser Welt. Den grössten Teil davon hat er als Künstler gelebt und mit vielerlei Material hantiert, das sich unter seiner Hand zu Kunstwerken wandelte. Nicht nur auf Leinwand, Wänden und Glasscheiben hat er sich verwirklicht, er hat auch in Holz geschnitten und davon gedruckt, er hat radiert, lithographiert und gemalt. Und er hat unendliche Entwürfe mit dem altmodischen Bleistift oder mit spitzer Feder in Form von exakten Skizzen niedergeschrieben. Dies besonders auch auf dem Gebiet, über welches hier berichtet werden soll: das Bilderbuch der Kinder. Das Bilderbuch war ein vollwertiger Zweig am Baum seines Künstlerdaseins, vielleicht sogar der mit dem persönlichsten Charakter, da er so eng mit seinem Leben verbunden war.

Dieser Teil seiner Tätigkeit verband ihn, den Häuslichen, der engsten Heimat zugewandten, auf märchenhafte Weise mit der Welt, machte ihn international bekannt, ja berühmt von Japan bis Amerika. Was kann es für einen Künstler Schöneres geben, als zu wissen, daß Hunderttausende von Kindern vieler Länder gewisse Märchen der Brüder Grimm durch seine Augen, auf seinen Bildern sehen und für viele Jahre sehen werden. Er teilte dieses Glück oder Schicksal des weltbekannten Bilderbuchgestalters mit zwei andern Schweizer Künstlern, Hans Fischer und Alois Carigiet, und auch Celestino Piatti gehört noch ein wenig in diese Reihe, zu deren Ahnen Ernst Kreidolf zählte, der sich als erster Schweizer Illustrator auf diesem Gebiet den großen Künstlern der umliegenden Länder ebenbürtig erwies. Diese Bilderbuchmacher gehören zu denen, die die Schweiz auf ebenso eindrückliche Weise wie gewisse wirtschaftliche und technische Dinge bekannt und beliebt gemacht haben.

Zwei Fragen müssen uns im Zusammenhang mit Hoffmanns Bilderbuchwerk beschäftigen:
1. Welche Themen benutzte er, und wie benutzte er sie? 2. Wie ist er in die Kunst der Gegenwart eingebettet?

Beide Fragen sind scheinbar einfach zu beantworten: Zum ersten ist zu sagen, dass er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, fast ausschließlich die Grimmschen Märchen benutzte. Er muss sich ihnen vom Kind her gesehen und als literarischem Kunstwerk mit immer sich erweiterndem Interesse zugewandt haben und sich voll bewusst gewesen sein, daß er ein Stück Weltliteratur illustrierte. Dass auch sein künstlerischer Stil bei den Grimmschen Märchen ein einheitlicher ist, der sich deutlich, zum Beispiel von dem der Glasscheiben, ja selbst von dem der Illustrationen der klassischen Literatur unterscheidet, bezeugt, welchen Respekt und welches Verständnis er dieser Literaturform entgegenbrachte.

Daß ein ernsthafter Künstler sich aber in so überwältigender Weise dem Bilderbuch der Kinder zuwandte, muß einen primären Grund gehabt haben. Hier war es eine neunjährige Tochter, die, allzu gefühlvoll, leicht zu Tränen neigte. Warum sollte ihr der Vater nicht einen echten Grund zu Traurigkeit und Tränen verschaffen und ihr eine wirklich traurige Geschichte illustrieren. Und so schuf er für seine älteste Tochter sein erstes Märchenbilderbuch. Es sollte sein allerschönstes werden!

«Rapunzel» (1949) ist ein Bilderbuch, das großen Ernst ausstrahlt, fast rollt sich auf den Bildern ein Roman ab. Das ernste Anliegen des Märchens wird in den Bildern eher verstärkt als gemildert. Ein Ehepaar, vielleicht ein Handwerkerpaar am Stadtrand, sitzt am Feierabend nachdenklich auf dem Balkon seines Hauses, die Frau voll ungestillter Sehnsucht nach einem Kind. Dieses unbestimmte Sehnen überträgt sich auf den Salat mit dem geheimnisvollen Namen Rapunzel, dem besondere Kräfte zugeschrieben werden. Er wächst im Garten einer Zauberin, und es folgt nun eine dramatische Bildfolge, das Stehlen der Rapunzelblätter durch den Mann und der dramatische Auftritt der alten Frau, die auf drei textlosen Seiten das erschreckend nackte Neugeborene entführt, das einige Monate nach dem Genuß des Rapunzelsalates geboren worden war.

Schon auf den nächsten Blättern ist Rapunzel kein Kind mehr. Als schwermütiges junges Mädchen schaut sie aus dem Turm, in dem sie eingemauert ist, über Gestrüpp und weite Meere. Der Text ist auch hier außerordentlich knapp, die Bilderzählung dagegen von epischer Breite, ernst, ja fast düster. Keine liebliche Kindergestalt, wie wir sie später bei Hoffmann finden, ist dieses Rapunzel, nur der strahlend rot gekleidete Prinz zeigt die erwachende Liebe und damit ein positives Geschehen an, desgleichen die verhaltene Liebesszene am Turmfenster. Das folgende Drama, der Sturz des Prinzen in die Dornen, seine Blindheit und die Rettung durch Rapunzels Tränen, faßt Hoffmann im Gegensatz zu den Brüdern Grimm kürzer zusammen. Er erspart den Kindern die Geburt der Zwillinge und das jahrelange Herumirren, d. h. das romanhafte, das auch im ersten Teil dieses Märchens so stark ist, zugunsten des märchenhaften Wunders, das alles gut macht. Es ist, so viel ich weiß, das einzige Mal, daß Hoffmann eine entscheidende Änderung am Grimmschen Text vorgenommen hat.

Dieses erste Bilderbuch, von Hoffmann auf den Stein gezeichnet, enthält einige Doppelseiten von überwältigender Ausdruckskraft und kompositioneller Schönheit, z. B. das Mittelbild mit dem Turm und dem jungen Liebespaar, aber auch der Raub des Säuglings, wie ihn die Zauberin über die auf zwei Seiten ausgebreitete Schneelandschaft trägt, ebenso die grausame Szene, in der die Hexe Rapunzel die Haare abschneidet, ein Bild, das viel Schrecken birgt.

Das künstlerisch außerordentlich starke Buch war schon bei Erscheinen umstritten, und acht Jahre lang folgte ihm kein neues Bilderbuch. Künstlerisch kommt ihm eine Einzelstellung zu als einem der grossartigsten, und es hat seinen Weg in zahlreichen Auflagen nicht nur zu den deutschschweizerischen Kindern, sondern auch nach Südafrika, Amerika, England und Japan gemacht. Das vom Inhalt her und textlich so kraftvolle Märchen hat auf jeden Fall in Hoffmann einen Illustrator von grosser Eigenart gefunden.

1957 folgt dann für seine Tochter Susanne, die mit Masern im Bett lag und getröstet werden musste, das Buch, das des Künstlers wirkliche Popularität und zugleich seinen Weltruhm als Bilderbuchmaler begründete «Der Wolf und die sieben Geisslein ». Hier haben wir ein typisches Märchen der Brüder Grimm, das er auch sprachlich wörtlich übernimmt, in seiner ganzen Schlichtheit, begleitet von einer so vielfältigen Bildgeschichte, dass das nicht lesende Kind der Handlung absolut folgen kann. Im Gegensatz zu «Rapunzel », dessen Gedankengänge und Handlungen schwerer zu fassen sind, stehen hier Kindergestalten, wenn auch animalische, mit denen sich schon ein kleines Kind identifizieren kann, im Zentrum. Im Gegensatz aber zum Wolf, der natürlich auch bei Hoffmann bedrohlich ist, herrscht über die meisten Seiten gleichzeitig die Mutter, die klassische gute Muttergestalt, fürsorglich liebevoll in der Küchenschürze, die Pfoten über dem Bauch gefaltet.

So viel Zärtlichkeit strahlt dieses Mutter-Kinder-Verhältnis aus, dass sogar der Schrecken vor der Bauchaufschneiderei und Zunäherei, die mit drastischer Genauigkeit vorkommen, aufgewogen wird. Ein erfahrener Familienvater, der weiss, wie weit er mit Kindern in Sachen Grausamkeit gehen kann, und ein Meisterlithograph waren am Werk, als dieses erfolgreichste, schon klassisch gewordene Bilderbuch entstand. Sechs Auflagen in der Schweiz 1, weitere in England und Amerika und allein 150000 Exemplare in Japan, dessen Kinder Hoffmann besonders zugetan sind, haben dieses berühmte Märchen in seiner unverfälschten Urform zu den Kindern der Weit getragen.

Sein japanischer Verleger, über diesen erstaunlichen Erfolg befragt, antwortet: «Ich habe dieses Buch mit Überzeugung verlegt, denn Herr Hoffmann verkörpert die Welt der Brüder Grimm mit vollkommenem Verständnis der Gegebenheiten und der Kultur, auf der ihre Märchen beruhen. Es ist auch zu begrüssen, daß er die Originaltexte benutzt hat. Die Illustrationen, nicht nur diese, gehören zu den besten, die je von diesen Märchen gemacht wurden».  Der Verleger, der so spricht, ist keineswegs konservativ oder gar altmodisch. Er hat sehr moderne Bücher herausgebracht, aber er erkennt die absolute Qualität dieser Illustrationen, die, obgleich in unsere Zeit gehörend, einen Bogen zur Zeit der Grimms schlagen.

Hoffmann hat von nun an ungefähr alle drei Jahre ein Märchenbilderbuch erscheinen lassen, die in ihrem Stil so harmonisieren, dass sie auch lllustrationen eines Buches sein könnten. Dass dennoch der Charakter der Bilder von Band zu Band wechselt, liegt an der verschiedenartigen Thematik der betreffenden Märchen.

Den «Geißlein » folgt «Dornröschen» (1959), wo wiederum eine lieblichernste Märchengestalt im Mittelpunkt steht. Wieder, wie bei Rapunzel, eine Gestalt von einer gewissen Schwermut. Auch der schwer zugängliche Turm und die Alte am Spinnrad erinnern formal an Rapunzel. Dieser Ernst betrifft aber nur die Hauptpersonen. Sonst breitet sich ein Reichtum an Handlung, an komischen Situationen, an Vielfalt der Kostüme und Nebenhandlungen, die der Text nur leise andeutet, in bunter Vielfalt über die Blätter. Nie habe ich die weisen Frauen so individuell und ausdrucksvoll gesehen. Das Leben in einem altertümlichen Schloß wird in allen Details geschildert, ja die Bilder überwuchern die Geschichte, wie bei keinem andern seiner Märchen. Was in kurzen Worten, fast ohne Adjektive, von den Brüdern Grimm mitgeteilt wird, so zeitlos knapp und herb, daß es nie an Frische verliert, bekommt in Hoffmanns Bildern das Kolorit, wird durch beschreibende Einzelheiten für die eigene Zeit gedeutet und beschrieben. Es ist ganz eindeutig, dass Hoffmann die Gegenstände, ja die Kindergestalten zum grossen Teil aus seiner eigenen engsten Umgebung nimmt.  Mädchengestalten wie das zarte kleine Geschöpf, das die sieben Raben, seine Brüder, befreit (1962), stammen sicher aus der eigenen Familie, ja auch Häuser und Landschaften sind keine Phantasiegebilde, sondern aus der Nähe erlebte Wirklichkeit, wodurch das Märchen den Kindern aus Hoffmanns eigener Weltund Zeit nahe gebracht wird, den fremden Kindern dagegen aus andern Breiten wird gezeigt, wie es dort ausgesehen haben könnte, wo dir Grimmschen Märchen spielen. Vielleicht sind Hoffmanns Märchenillustrationen dadurch etwas datiert in den Äusserlichkeiten.

„Die vier kunstreichen Brüder“ (1966) in ihren drolligen halblangen Overalls würden heute, zehn Jahre später, Blue Jeans tragen und auch das kleine Mädchen aus den „Sieben Raben“ (1962) mit seinem Baskenmützchen und dem Minirock ist deutlich ein Schulmädchen der Sechziger Jahre, also ebenfalls schon datiert. Aber welche Bilderbücher sind das nicht? Man sehe sich nur die erfolgreichsten Bilderbücher des 19. Jahrhunderts an, die Bücher Heinrich Hoffmanns etwa mit den Kindern in ihren typischen Biedermeierkostümen. Sie spiegeln ihre Zeit und sind doch zeitlos.

Eine andere Frage ist weniger leicht zu beantworten. Sie betrifft nicht Hoffmann allein, spielte aber in der Diskussion um Hoffmanns Werk immer eine gewisse Rolle: Verlangen die Grimmschen Märchen in ihrer glasklaren Wortgestaltung, die der Phantasie so grossen Spielraum lässt, nach derartig ausführlichen Bilderklärungen?

Ich hatte hier selbst lange Zeit einige Zweifel, aber da der Künstler sich derart in Geist und Atmosphäre, ja in die Zeit der schriftlichen Niederlegung der Märchen im Anfang des 19. Jahrhunderts hineinversetzte, haben die Bilder zugleich auch den Sinn einer Deutung der für Kinder teilweise schwer zu erfassenden Geschichten. Durch das Bild werden sie einem unendlich viel grösseren Kreis von Kindern nahe gebracht als die Texte allein, die ja ursprünglich nicht für Kinder gedacht waren, es erlauben würden.

Ein köstliches Beispiel für diese Bereicherung durch gegenständliche Beschreibung finden wir im „König Drosselbart“. Da sieht man, wie man früher Feuer machte, wie Körbe geflochten wurden oder wie in alten Zeiten ein Orchester aufspielte, wobei jedes der alten Instrumente korrekt gezeichnet ist. Ohne die Bilder würde ein modernes Kind über diese Dinge hinweglesen. Die Bereicherung durch das Bild, das zudem vieles bietet, was im Text überhaupt nicht erwähnt wird, liegt auf der Hand. Die Bilder bei Hoffmann sind somit nicht nur Wiederholung der Texterzählung, sondern Erklärung, Stimmungshintergrund und Deutung.

Diese Eigenschaften teilt er mit vielen andern, aber während diese illustrativen Beigaben bei den meisten graphische Dekoration bleiben, geht Hoffmann diesen Äusserlichkeiten mit der grössten Gewissenhaftigkeit zuleibe. Man sehe sich nur den Scherenschleifer bei „Hans im Glück“ an.

Hoffmanns fast altmodische Gegenständlichkeit ist verbunden mit einer so schönen Einheitlichkeit im Stil, mit einer Genauigkeit, wie Kinder sie lieben, aber auch mit einer malerischen Freiheit, wie er wechselt zwischen Schwarzweisszeichnung für Hintergrundfiguren, freistehenden farbigen Gestalten bei dramatischen Auftritten und geschlossenen farbigen Bildern, wenn das Stimmungsmässige vorherrscht.

Bei einigen späteren Büchern aus den siebziger Jahren wie „Der Däumling“ (1972) und „Hans im Glück“ (1975) wird das Figürliche, das die Erzählung deutlich macht, stärker. Die Umrisse der Gestalten werden kräftiger und die Farben lichter. Sollte das an den Enkelkinder Susanneli und Daniel, denen die Bände gewidmet sind, liegen? Viel zärtliche und witzige Details findet man, vor allem im „Däumling“, angefangen mit dessen Titelbild, wo der kleine Wicht eine zarte Pusteblume wie einen Luftballon über die Titelseite trägt, oder auch wie er klein und blau, jedoch überdeutlich im riesigen Heuhaufen liegt, ein liebenswertes Häuflein Mensch, das kurz darauf ebenso deutlich im transparenten Magen der Kuh vergnüglich landet. Selbst im Bauch des Wolfes scheint noch eine gewisse Heiterkeit zu herrschen, eine farbig leuchtende Heiterkeit, die dieses ganze Buch beherrscht, und die die Kinder lieben.

In seinem letzten Bilderbuch „Hans im Glück“ wird die Entwicklung zu freistehenden, handelnden Figuren, zu fröhlicher Farbigkeit und deutlichen Umrissen am weitesten getrieben. Stimmungsbilder fehlen hier ganz!

Dieses Wegfallen des stark Stimmungsmässigen, des Düsteren, ja Traurigen in seinen letzten Büchern entspricht wohl nicht nur gerade diesen Märchen, sondern auch einer ständig sich erneuernden Auseinandersetzung mit den Märchen, die wiederum seine Auswahl beeinflussten.

Vielleicht brauchte er auch mehr als früher einen erfrischenden Kontrapunkt zu den bibliophilen Werken, die er Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre schuf, wie «Daphnis und Chloe», Kellers «Sinngedicht», Heinrich von Kleists «Über das Marionettentheater» und viele  andere geistig anspruchsvolle Werke, die zum Teil nicht veröffentlicht wurden. Da bedeuteten die Märchen, in denen er sich zu Hause fühlte, eine Entspannung, die ihn mit den Kindern verband und zugleich mit Vergangenheit und Zukunft. Dass diese Beschäftigung mit dem Märchen mit der gleichen Gewissenhaftigkeit geschah, die er bei der Arbeit an den bibliophilen Werken jener Zeit anwandte, wissen wir. In jenen Jahren entstanden auch Illustrationen zu «101 Märchen » von den Brüdern Grimm, ein Sammelband, der noch nicht erschienen ist und auf den man mit Recht gespannt sein darf.

Ebenfalls in dieser Zeit wurde auch Hoffmanns letztes Buch fertig, eine Weihnachtsgeschichte, die in Zusammenarbeit mit seinem japanischen Verleger entstand, dem dieses Buch als Christ ein besonderes Anliegen war. Es ist eine herbe und ernste Weihnachtsgeschichte, eher auf der Linie der frühen Märchen, mit einer lieblichen, aber verschlossenen Maria im Mittelpunkt, die verkündenden und warnenden Engel fügen sich halbirdisch in die Bildkomposition, und der den Weg weisende Stern ist nur ein Gestirn, das, ein wenig größer als die andern, unauffällig den Weg zeigt. Nur der Engel der Hirten leuchtet golden und hat etwas Überirdisches. Dem Gang der Hirten über die Felder zum Stall in all ihrer irdischen Derbheit wird breiter Raum gegeben. Die Hirten sind typische Hoffmann-Gestalten. Im Gegensatz zu den meisten Weihnachtsgeschichten für Kinder ist die Verkündigung und die Flucht nach Ägypten ausführlich in das Buch miteingeschlossen, und die Verkündigung zeigt einen mütterlichen blauen Engel, der sich einer kindlichen, leicht verängstigten Maria tröstend zuwendet.

Dieses Weihnachtsbuch hat, wie auch sein Buch über Biblische Geschichten, nicht die äußere Farbigkeit und Leuchtkraft wie einige seiner Märchenbücher. Es ist auch statischer, ruhiger und besinnlicher und setzt sich damit deutlich von den späten Bilderbüchern ab. Die Werte sind anders gesetzt, aber es strahlt eine große Wärme aus, die man auch mit Religiosität bezeichnen kann, und Kinder sind schnell vertraut damit. Auch hier finden wir trotz der inhaltlich ernsten Stimmung den für Hoffmann so typischen Reichtum an beschreibenden Einzelheiten, die das kleine Kind liebt und die es zu Fragen veranlassen.

Man kann wohl sagen, dass es die Hauptqualität von Hoffmann als Bilderbuchmaler ausmacht, dass er zwar der großen Linie eines Buches, d. h. der Komposition der Doppelseiten, das zeigen seine Entwürfe, große Wichtigkeit beimisst, dass aber das gegenständliche Detail, das von so vielen vernachlässigt wird, bei ihm nie zu kurz kommt. Vom Geschirr zum Möbel, von der Kleidung zur Architektur, ja dem kleinsten Gegenstand schenkt er die liebevollste Aufmerksamkeit. Nie aber zerstören viele Kleinigkeiten die große Linie. Die Gesamtkonzeption bleibt immer sichtbar.

Das wird besonders deutlich, wenn man die zu jedem Buch vorhandenen Bleistiftskizzen, an die er sich beim Malen oder Lithographieren erstaunlich genau hielt, betrachtet.

Während die Schöpfer der meisten neuzeitlichen Bilderbücher sich von der modernen französischen Malerei oder auch vom Expressionismus inspirieren ließen - wie oft begegnet man Chagall oder Rouault, ja auch Franz Marc und selbst der kubistischen Malerei und den Abstrakten -, steckt in Hoffmann nicht wenig von den alten deutschen Meistern verborgen. So ist es vielleicht nicht ganz zufällig, dass er seine letzte Studienzeit als Meisterschüler des bedeutenden Illustrators Hans Meid an der Kunstakademie von Berlin verbrachte, noch gerade bevor sich Dunkel über das kulturelle Leben Deutschlands senkte. Dort hatte er die alten deutschen Meister in Reichweite und konnte sie an Ort und Stelle studieren. Dass dies sich harmonisch mit seiner Schweizer Eigenart verband, war nur natürlich. Er ist im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen in der Schweiz und überall nie den Weg zur vollständigen Abstraktion gegangen, wenn sich auch zunehmend, besonders bei den Glasscheiben, eine stark abstrahierende Stilisierung anbahnte.

Bei den Illustrationen, vor allem denen der Bilderbücher, blieb er, ähnlich wie ein andrer Großer auf diesem Gebiet, Maurice Sendak, sich selbst treu. Bei beiden gingen, vor allem wenn es sich um das große Thema «Grimms Märchen » handelte, Studien voraus, die in ergreifender Weise die Ernsthaftigkeit zeigen, mit der diese Künstler, so verschieden sie waren, an Aufgaben dieserart  gingen. Wenn man ein Leben lang beobachtet hat, was auf diesem Gebiet alles fabriziert wird, so muss man dankbar sein um die Handvoll Künstler, die solcherart bemüht um die künstlerische Erziehung der Kinder waren und diese tiefe Beziehung zum Märchen hatten.

Die Skizzenbücher Zum Teil im Kleinformat, aber nur als Entwürfe, liegen vor: „Die Gänsemagd“, ein lyrisches Kunstwerk mit Andeutungen in Farbe, „Frau Holle“, ein sehr bewegtes, ausdrucksvolles Büchlein, sowie „Der Froschkönig“ mit einem kleinen und einem grösseren Entwurf von starker Ausdruckskraft. Hier bedauert man besonders, dass es nicht fertig ausgeführt wurde.

„Rotkäppchen“ liegt als fertiges Buch für die eigenen Enkel vor (1973). Dieses Märchen, oft tiefenpsychologisch gedeutet, ist bei Hoffmann frei von Dämonie und soweit wie möglich frei von Schrecken. Der Wolf scheint wie ein verwilderter Hund, der Wald ein Märchenwald. Unerhört dramatisch ist nur, wie der Wolf Rotkäppchen verschlingt. Doch sehr geschwind ist Rotkäppchen wieder am Tageslicht, liest die Blumen und die verlorenen Gegenstände auf, um sie der ebenfalls geretteten Grossmutter zu überreichen. Das Idyll mit Kuchen, Wein und Jäger ist, so wie Kinder es lieben, in allen Einzelheiten dargestellt. Leider haben nur Hoffmanns eigene Enkel dieses Buch geniessen können. Es gehört ausgesprochen zu  den lichteren Märchenillustrationen der abgeklärten Spätzeit.

Zwei weitere Bücher, die beinahe fertig sind, nur noch nicht lithographiert wurden, sind „Der Bärenhäuter“ und „Rumpelstilzchen“. Der Bärenhäuter, sehr gelockert und frei gezeichnet und kalligraphisch mit Schrift versehen, lässt teilweise viel freien Landschaftsraum, in dem allerlei Kreatürliches sich bewegt. Im Vordergrund agiert der Bär in aller Deutlichkeit, während im Hintergrund in zart skizzierten Zeichnungen die Kinder zu sehen sind. Das schöne Buch soll 1978 in Faksimile erscheinen (2).

Wenn man alle diese fertigen und beinahe fertigen Bücher sieht, in denen so viel Phantasie und Können investiert sind, blickt man mit Spannung dem Sammelband der Märchen entgegen, der hoffentlich 1977 erscheinen wird (3).

Hoffmann hat mit dem grössten Teil seiner Bilderbücher einen wertvollen Beitrag an die Welt der Brüder Grimm geleistet. Eine Ausnahme bildet das charmante Bilderbüchlein über das berühmteste schweizerische Kettengedicht „Joggeli wott go Birli schüttle“, das sich durch die Holzschnitt-Technik stilistisch stärker an seine bibliophilen Werke anlehnt, was nicht verhindert hat, dass dieses hübsch aufgemachte Werk in Kleinformat sehr populär wurde.

Hoffmann hat sich wie alle Schweizer Illustratoren seinen Platz an der Sonne erkämpfen müssen. Die Kinder waren weniger streng mit ihm als die Pädagogen. Das Ausland hat ihn früh erkannt, ja ein amerikanischer Verlag hat ihn bei einer internationalen Märchensammlung zur Illustrierung polnischer und anderer Märchen herbeigezogen. Er könnte, lebte er noch, mit Stolz auf ein reiches Bilderbuchwerk zurücksehen, das der künstlerischen Erziehung der Kinder in grossartiger Weise und durch unvergängliche Bücher gedient hat.



erschienen in  „Felix Hoffmann“ Retrospektive, Aaragauer Kunsthaus 1977

1    bis 1993 11 Auflagen
2    erschien im Sauerländerverlag 1978
3    erschien 1985 bei Sauerländer